01.03.2009

Selbstverwirklichung – macht sie noch Sinn?

In einer neuen, groß angelegten Studie aus Großbritannien wurde erst kürzlich bekannt, wie sehr das exzessive Streben nach persönlichem Erfolg und Selbstverwirklichung das Leben vieler Kinder negativ beeinträchtigt. „Children's Society" berichtet von den seelischen und familiä­ren Nöten der Kinder, die davon betroffen sind. Der Bericht basiert auf Forschungen von Professoren, Familienexperten und einer Befragung von mehr als 30.000 Kindern. Was dabei immer wieder als das „zentrale Hindernis für eine glückliche Kindheit" genannt wird, ist der Zerfall der Familien. Schuld daran sind die hohen Scheidungsraten. Diese jedoch haben ihre Ursache in einer exzessiv gelebten Selbstverwirklichung. Sie hat dazu geführt, dass schon heute ein Drittel der 16-jährigen ohne leiblichen Vater aufwächst. Rund die Hälfte der Scheidungskinder hat Probleme in der Schule; viele leiden unter Minderwertigkeitskomplexen und Depressio­nen. In Großbritannien gehen mehr als zwei Drittel der Frauen mit Babys arbeiten und überlassen ihre Kinder Babysittern. Die Berufstätigkeit der Mütter wirkt sich bei der Mehrzahl der Kinder negativ aus. Insbesondere zeigen sich nachhaltige negative Auswirkungen auf die seelische Entwicklung der Kinder.

Wer die Ehe lediglich als „eine von mehreren Optionen auf dem Marktplatz der Lebensstile" ansieht, muss sich durch die Studie eines Besseren belehren lassen. Eine intakte Ehe und Familie ist nicht zu ersetzen. Das wurde bereits in früheren Versuchen immer wieder deutlich. Trotzdem wird die Rolle der Frau als Mutter bis heute immer noch in Frage gestellt und lächerlich gemacht. Dieses Verhalten ist jedoch längst überholt und nicht der Fortschritt, für den manche Politikerinnen es halten, sondern vielmehr dumm und rückständig. Gleiches gilt für die gesellschaftliche und finanzielle Benachteiligung der Frau in ihrer Rolle als Mutter. Selbstverwirklichung der Frau im Beruf und die damit verbundene finanzielle Eigenständigkeit können als Errungenschaften gesehen werden, jedoch nur, wenn die Gesellschaft die damit einhergehenden Folgen aufzufangen imstande ist. „Wo Kinder nur noch ein Hindernis sind und in Hort und Kinderkrippen abgeschoben werden, ist die Selbstverwirklichung zum Betrug geworden." Die kinderfeindliche Gesellschaft, in der wir leben, ist in ihrer 'Seele' krank. Das lässt sich nicht zuletzt auch daran erkennen, wie sie Abtreibung für normal erklärt, während ihr andererseits die Kinder fehlen, um das soziale Netz aufrecht zu erhalten. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht – die Gehirnforschung hat längst eindeutig bewiesen, dass es einen beträchtlichen Unterschied zwischen Mann und Frau gibt. Was bleibt, ist die Erkenntnis: Männer und Frauen sind zwar gleichwertig, aber nicht ihrem Wesen nach gleichartig.

Selbstverwirklichung und Spaßgesellschaft

Was immer Menschen unserer Zeit vom ehemaligen Papst Benedikt XVI halten, er hat recht, wenn er, übrigens noch bevor er zum Papst gewählt worden war, sagte: „Wir gehen auf eine Diktatur des Relativismus zu, die nichts als sicher anerkennt und als ihr höchstes Ziel das eigene Ego und die eigenen Wünsche hat." Der bekannte ZDF-Journalist Peter Hahne zitiert in seinem Bestseller „Schluss mit lustig" den großen Psychotherapeuten Victor E. Frankl, der einmal meinte, dass Selbstverwirklichung nichts anderes sei „als ein manipulatives Tarnwort für übersteigerten Egoismus". „Ich, ich und nochmal ich!", schreibt Peter Hahne, „So rückt die Spaßgesellschaft den einzelnen Menschen mit seinen Wünschen und Bedürfnissen in den totalen Mittelpunkt. Was den Spaß bremst, muss weg. Und seien es die einfachsten Regeln des Zusammenlebens." Im 4. Jahrhundert bezeichnete Augustinus diese Lebensform als „ das auf sich selbst zurück verbogene Herz", von dem er der Meinung war, dass Gott es zurechtbiegen müsse, indem er den Menschen von seinem Egoismus befreie.

Selbstverwirklichung – was ist das?

„Selbstbeherrschung" oder „Selbstverleugnung" – jedes dieser Worte ist heute ein Reizwort, das zu endlosen Diskussionen führen kann. Dabei ist alles gar nicht so schwierig. Wir müssen nur wissen, wo die Grenze ist zwischen gesundem Selbstwert und krankhafter Ich-Bezogenheit. Es waren die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts, wo sich eine ganze Generation auf die Suche nach ihrem Selbst begab. Namen wie Carl Rogers und Frederick S. Pearls oder Erich Fromm sind eng damit verknüpft. Die Psychotherapie erlebte einen immensen Aufschwung. Therapeutische Methoden wie Gestalttherapie und Psychodrama, Körpertherapie, Bio­dynamik, Focusing und individuelle, klientenzentrierte Gesprächstherapie sollten den Weg zur persönlichen Erfüllung zeigen. Es war die Zeit der Selbsterfahrungs-Seminare, Selbstbehauptungstrainings und Encountergruppen. Nur wer zu sich selbst gefunden habe, wer seine Bedürfnisse kenne und sich nicht länger anderen unterordne, nur wer sich durchzusetzen wisse, könne psychisch gesund und lebenstüchtig sein, hieß es. Doch schon wenige Jahrzehnte später lesen wir in der psychologischen Fachliteratur, wie die bekannte Autorin Ursula Nuber in ihrem Buch „Die Egoismus-Falle" unüberhörbar gegen diese Form der rücksichtslosen Selbstverwirklichung auftritt, weil sie die Grundlagen der Gesellschaft zerstöre. In einem Artikel der Zeitschrift „Psychologie Heute" schreibt Nuber: „Auf dem Weg zur Selbstverwirklichung haben wir die Fähigkeit verloren, die wir heute dringend bräuchten: Die Fähigkeit mit anderen Menschen zu leben und an ihrem Schicksal wirklich Anteil zu nehmen. Wir sind so beschäftigt, dass die anderen weitgehend Staffage für unser Leben geworden sind. Sie spielen für uns nur insoweit eine Rolle, als wir sie für unsere Selbstdarstellung brauchen." Alain Ehrenberger, ein französischer Soziologe meint in seinem Buch „Das erschöpfte Selbst" sogar, dass nicht mehr Schuld und Verdrängung die Menschen krank machen, wie das früher gesehen wurde, sondern Freiheit und Verantwortung. „Der heutige Mensch", so schreibt er, „ist freier, doch die Angst zu versagen macht ihn krank." Einer, der die Problematik rund um den Trend zur exzessiven Selbstverwirklichung schon früh erkannte, war der Schweizer Psychiatrie-Professor Jürg Willi. Er schreibt: „Der Mensch droht heute nicht nur an der Zerstörung seiner natürlichen Umwelt zugrunde zu gehen, sondern auch an der Zerstörung seiner elementaren Gemeinschaftsstrukturen. (...) Der Schutz menschlicher Ökosysteme, insbesondere der Familie, scheint mir heute ähnlich dringlich wie der Schutz unserer natürlichen Umwelt." Wie die Zerstörung des Regenwaldes wegen kurzsichtigen Interessen dem globalen Wohlergehen der Menschheit zuwiderläuft, genauso zerstört eine rücksichtslose Selbstverwirklichung langfristige und tragfähige Beziehungen. In diesem Zusammenhang wird verständlich, wenn Christa Meves für eine „christliche Kulturrevolution" plädiert. Denn das allein wäre eine wirkliche Alternative zum gegenwärtigen Trend der Selbstverwirklichung.

Was aber wäre darunter zu verstehen?

Wenn wir die Geschichte der Menschheit betrachten, sehen wir sofort, dass viele große Dinge auf dieser Welt nur deshalb möglich wurden, weil einzelne Menschen ihr eigenes Wohlergehen zum Wohle anderer oder für ein höheres Ziel hintan gestellt haben. Viele Kunstwerke gäbe es nicht, aber auch das Engagement einer Mutter Teresa oder eines Albert Schweitzer wären nicht vorstellbar, ebenso wenig wie die bedingungslose Gewissenstreue Dietrich Bonhoeffers oder der Geschwis­ter
Scholl zur Zeit des deutschen Natio­nalsozialismus. Was zu solcher Charakterstärke und zu solch großartigen Leistun­gen führte, kam jedoch nicht aus dem Nichts. An solchen Beispielen können wir erkennen, wie aktuell und hilfreich die Worte der Bibel sind. Denn schon vor 2000 Jahren sagte Jesus zu den Starken: „Verleugne dich selbst und folge mir nach." Doch gleichzeitig nahm er die Schwachen in Schutz, indem er zu den Pharisäern und ihren überhöhten Forderungen sagte: „Ihr legt den Menschen unerträgliche Lasten auf – doch ihr selbst rührt keinen Finger, um diese Lasten zu tragen." (Luk. 11, 46) Der Schriftsteller Robert Louis Stevenson formulierte es als Antwort auf die Frage nach einem geglückten Leben einmal so: „Das zu sein, was wir sind, und das zu werden, was uns möglich ist, ist das einzig wahre Ziel im Leben!" Doch all das im Dienst und nicht auf Kosten anderer, müssten wir hinzufügen; das lehrt uns die Erfahrung der letzten Jahrzehnte.

Produkt des Zufalls oder von Gott dem Schöpfer gewollt?

Als der Philosoph Jean-Paul Sartre, vielleicht der berühmteste Atheist des 20. Jahrhunderts, kurz vor seinem Tod stand, sagte er einen Satz, der aufhorchen lässt: „Ich habe nicht das Gefühl, ein Produkt des Zufalls zu sein, ein Häufchen Staub im Universum, sondern jemand, der erwartet wurde, vorbereitet, erdacht. Kurz gesagt: Ein Wesen, das nur ein Schöpfer hierher gesetzt haben kann." Wenn wir erwartete Wesen sind, vorbereitet, erdacht, bewusst gewollt von Gott, dann kann der Sinn des Lebens nicht der sein, den viele Menschen heute für ihren Sinn des Lebens halten. Dann ist auch unser Streben nach Selbstverwirklichung zu hinterfragen. Denn dann gibt es mehr als dieses Leben und mehr als uns selbst.   Was Sartre angesichts des herannahenden Todes empfand, ist übrigens genau das, was die Bibel schon seit Jahrtausenden sagt und wovon sie bezeugt, dass es die Wahrheit ist: Wir sind als Menschen auf dieser Erde keine zufällige Ansammlung von Atomen, sondern von Gott bewusst gewollte Wesen. Genau darin besteht der Sinn unseres Lebens, dass wir diesen Sinn von Gott erhalten, der die Quelle und der Grund für den Sinn unseres Lebens ist. Der Psychoanalytiker C. G. Jung hat einmal gesagt, dass bei all seinen Patien­ten, die über 35 Jahre alt waren, das entscheidende Problem mit der Erfahrung von Sinnlosigkeit zusammenhing.

Ein sinnvolles Leben – was ist das?

Sinnvoll ist unser Leben, wenn es uns gelingt, das zu tun und zu verwirklichen, was im wahrsten Sinn des Wortes „sinnvoll" ist. Das kann z. B. heißen, sich durch ein anstrengendes Studium zu plagen, weil man weiß: Letztendlich kann ich dadurch in den Beruf meines Lebens einsteigen. Es kann auch ein ganz bewusstes Ja zu Kindern sein, trotz Entbehrung, Mühen und durchwachten Nächten. Weil eine intakte Familie aufs Ganze gesehen bis ins hohe Alter hinein glücklich machen kann und Sinn im Leben gibt. Den über dieses irdische Leben hinausreichenden Sinn finden wir immer nur in Gott. Dagegen ist die moderne Form von Selbstverwirklichung darauf aus, alles an Karriere, Lust und Highlights in die Lebensspanne von 70, 80 oder 90 Jahren hineinzupacken. Ganz nach dem Motto: „Was in diesem Leben nicht stattfindet, findet überhaupt nicht statt." Ein Mädchen, das aus dieser Lebenshaltung wieder herausgefunden hatte, formulierte es so: „Ich bin aufgewachsen mit dem Satz 'Nach mir die Würmer'." Wer so denkt, wird in seinem Leben die „Spaß-Maximierung", also das größtmögliche Maß an Befriedigung durch exotische Hobbys, Urlaubsreisen in entlegene Länder, luxuriöse Autos und sexuelle Abenteuer anstreben. Erst wenn so ein Mensch merkt, dass sich Sinn und Zuversicht in materiellen Dingen allein nicht finden lassen, erkennt er vielleicht den Betrug seines Lebens. Was er an Schaden seinen Kindern wie auch anderen Menschen inzwischen zugefügt hat, lässt sich aber meistens schon nicht mehr rückgängig machen. Die Folgen eines egoistischen, zerstörerischen Verhaltens exzessiver Selbstverwirklichung wiegen dann oft schwer.

Es geht aber auch anders

Wer an den christlichen Gott glaubt und nach seinen Geboten lebt, der kann eine Art der „Selbstverwirklichung" leben, die nicht auf Kosten der anderen geht und auch nicht auf Kosten von Kindern, Freunden, Eltern, Großeltern, Armen oder Kranken. Diese Form der Selbstverwirklichung hat Franz von Assisi in seinem Friedens­gebet einmal so ausgedrückt: „Wer sich hingibt, der empfängt; wer sich selbst vergisst, der findet." Der bewusste Verzicht auf den Lustgewinn, auf Genuss oder Annehmlichkeiten wird in diesem Lebensmodell zum Schlüssel für den eigentlichen Erfolg im Leben, weil er dem Leben als Ganzes dient. So führt Entbehrung oft zu mehr Lustgewinn und Selbstverwirklichung, als die ständige Verfügbarkeit und Machbarkeit von Lust und Selbstverwirklichung. Das lehrte Jesus schon vor mehr als 2000 Jahren, als er sagte: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir! Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden." (Matth. 16, 24-25). Wer die beiden Lebensmodelle – das der exzessiven Selbstverwirklichung und das der Bibel – im Spiegel der Geschichte ansieht, wird recht bald erkennen, wer Recht behält. Da nämlich stirbt die Selbstverwirklichung mit dem, der sich selbst verwirklichte – und von dem nichts übrig blieb als der schlechte Ruf. Während der, der sich an die Wahrheit hielt, gewann, weil sein Name an Leuchtkraft gewann – in dieser Welt und über diese Welt hinaus. Dafür gibt es Beispiele in der gesamten Geschichte bis herauf in unsere Zeit. Wir alle können dazu Namen nennen, bekannte und weniger bekannte. Deshalb stellen wir jetzt die Frage noch einmal: Ist Selbstverwirklichung noch aktuell? Die Antwort ist nein, solange sie auf Kosten unserer Grundlagen geht und die Zufriedenheit nicht bringt, die sie uns verspricht.

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